Shuqua
Irgendwo im Land von Eis und Feuer
lebte einst ein schreckliches Ungeheuer.
Es überzog das Land mit Hass und Groll
und forderte von den Menschen seinen Zoll.
Eine junge Frau sollten sie ihm geben,
dann könnten alle fortan in Frieden leben.
Die Menschen berieten nun in großer Not,
doch kein Mädchen wollte in den sicheren Tod.
Da trat eine alte, hässliche Frau ins Rund
und tat den Versammelten folgendes kund:
„Ich gebe euch meine Tochter als Opfer hin,
wenn ich dadurch frei von meiner Armut bin.“
Die Leute haben nicht lange nachgedacht
und Shuqua dem Ungeheuer dargebracht.
Doch so sehr sich die junge Frau auch wehrte,
weinte und sich in Hass und Trauer verzehrte,
sie musste dem Ungetier immer zu Willen sein,
und Shuqua fühlte sich so schmutzig und allein.
Bald empfing sie ein Kind in trostloser Nacht,
es sah dem Vater ähnlich und hat nie gelacht.
Die Mutter spürte des Mädchens große Qual
Schuldgefühle plagten sie von Mal zu Mal.
In einem Kajak floh sie mit Shuqua aufs Meer,
doch das Ungetüm machte die See schwer.
Die Alte aus Angst und Furcht ganz blind
stürzte aus dem Boot das ungeliebte Kind.
Mit letzter Kraft fand Shuqua Halt am Kajakrand,
doch die Mutter schlug mit Gewalt auf die Hand.
Diese zersprang in tausend und ein Stück,
und das Mädchen fiel ins tobende Nass zurück.
Die Finger verwandelten sich in großer Zahl
in Muscheln, Robben und in einen riesigen Wal.
Shuqua sank auf den Boden der wilden See
und verwandelte sich in eine unglückliche Fee.
Sie wollte erst an die Oberfläche schwimmen,
sollte ihr Sohn für sie ein Lied anstimmen.
Würde er ihr langes Haar kämmen und pflegen
könnte sich der Sturm in ihr endlich legen.
.
Shuquas Sohn
Es war im Land von Eis und Feuer,
da lebte Shuqua mit einem Ungeheuer
zusammen unter widrigsten Umständen,
das Blut gefror ihr unter seinen Händen.
Trotzdem entstand aus ehelicher Gewalt
etwas ganz Neues in kindlicher Gestalt.
Als der Junge endlich auf die Welt kam,
empfand seine Mutter Abwehr und Scham.
Er erinnerte äußerlich an seinen Vater eher,
doch sein Inneres war seiner Mutter näher.
Lieben konnte Shuqua das Kind nur bedingt,
doch folgte sie ihrem mütterlichen Instinkt
und gab ihm alles, damit er gut gedieh,
aber dem Vater des Kindes verzieh sie nie.
Der Junge fühlte sich schuldig und verlassen,
er lernte bereits früh, sich dafür zu hassen,
dass es ihn gab und dass er leben musste,
obwohl er von den Ursachen nichts wusste.
Als Shuqua dann heimlich ohne ihn floh,
wurde er seines Daseins nicht mehr froh.
Er liebte seine Mutter mehr als sein Leben,
so wie sie zu sein, war sein einziges Streben.
Aber nun brach sie sein rissiges Herz ganz,
und auch er ging zu seinem Vater auf Distanz.
Bohrende Fragen hatten ihn seitdem gequält,
doch er hat nicht den leichten Weg gewählt.
Denn er ging bewusst in die dunklen Tiefen,
er fand Schmerzen und Ängste, die ihn riefen.
Hinter allem sah er immer Shuquas Gesicht,
je tiefer er ging, je mehr sah er sie im Licht.
Als er alles in sich aufgelöst hatte und geheilt,
ist er zur ihr auf den Meeresgrund geeilt.
Er hat sie an die Oberfläche zurückgeführt,
seine Heilung hat auch sie erlöst und berührt.
Auch die Linie seines Vaters bis zu ihren Anfängen
wurde befreit von Schuld, Gewalt und Zwängen.
.
Shuquas Mann
Ein Mann lebte im Land von Feuer und Eis,
für sein Wohlverhalten forderte er als Preis
von den unterdrückten Menschen ein Weib
mit unschuldiger Seele und jung am Leib.
Die Menschen verrieten ihre Ideale gar zu leicht
und haben dem Mann ein Mädchen überreicht.
Sein Auftreten hat Shuqua sehr verstört,
doch ihr Schrei nach Freiheit blieb ungehört.
Sie musste nun ihr Leben mit jemandem teilen,
der lieber zerstörte als Wunden zu heilen.
Verborgen im Mann regten sich noch Gefühle,
es war auch Wärme in ihm nicht nur Kühle.
Als Kind war er selbst ein Opfer von Gewalt,
doch als Täter wurde er grausam und kalt.
Seine junge Frau hatte etwas in ihm angerührt,
als das Baby kam, hat er es noch mehr gespürt.
Weil sein eisiges Herz Shuqua langsam tötete,
verschwand sie, als der Morgen sich rötete.
Sein Hass und Zorn ließen das Wasser erbeben,
doch sie zog es vor, am Meeresgrund zu leben.
Sein Sohn, nun ohne Furcht vor ihm, verschwand,
und entledigte sich allem, was ihn noch band.
Der Mann sah sein Leben endgültig in Trümmern
und hatte keine Kraft, sich um sein Herz zu kümmern.
Fühlen wollte er nicht Schmerzen und Ohnmacht
deshalb senkte sich über ihn die schwarze Nacht.
Er lebte in seiner vergessenen Welt, im Wahnsinn,
er verlor sein Bewusstsein und siechte dahin.
Erst als sein Sohn das Trauma in sich auflöste,
und seiner Mutter neuen Lebensmut einflößte,
fand sein zerbrochenes Herz endlich Frieden,
und ist im Land von Feuer und Eis verschieden.
Verfasser: Ich bin Viele